Interview mit Pastor Oleksandr Lavrentiev
Lieber Oleksandr, seit Kriegsbeginn lebst Du in der Ukraine. Aktuell bist Du wieder in Wolfsburg, weil Du eine Genehmigung erhalten hast, Deutschland für drei Wochen zu besuchen, Kontakte zu pflegen und humanitäre Hilfe zu organisieren. Anschließend musst Du in Dein Land zurückfahren. Mit welchen letzten Gedanken und Eindrücken aus Deiner Heimat bist Du nach Deutschland gekommen?
Wir haben alle gedacht, dass der Krieg nicht so lange dauern wird. Insgesamt ist es deutlich schlechter geworden als noch vor ein paar Monaten, was daran liegt, dass die russische Armee die einfache Bevölkerung angreift. Viele Menschen haben keinen Strom und kein Wasser. Viele Menschen haben zu leiden und werden ärmer, obwohl die Armee stärker wird. Es ist aber auch zu beobachten, dass die Menschen immer stärker zusammenhalten und sich gegenseitig helfen, je heftiger die Bombardierungen werden.
Was machst Du in der Ukraine, wie sieht Deine Arbeit in Kriegszeiten aus?
Ich versuche in meiner Umgebung, ich lebe im Westen der Ukraine, auf dem Land, zu helfen. In meiner Gegend leben viele Flüchtlinge. Vor dem Krieg sind viele Menschen in die großen Städte gezogen. Viele Häuser bei uns standen leer. Momentan sind alle Häuser wieder belegt, selbst die, die 20 Jahre nicht bewohnt waren. Die Binnenflüchtlinge sind oft über 60 Jahre alt, weil sie nicht wie die Jüngeren ausreisen wollen.
Die Menschen brauchen Kleidung, Lebensmittel und Medikamente. Ich habe ein großes Lager eröffnet, um Hilfsgüter zu sammeln und gut verteilen zu können. Diese Güter kommen aus Wolfsburg, aber auch aus Italien oder Tschechien. Wir bekommen auch finanzielle Unterstützung, die sehr wichtig ist. So konnten wir sechs gute Generatoren kaufen, die gerade jetzt, bei den häufigen Stromausfällen, wertvolle Dienste leisten.
Ich fahre auch oft mit einem großen Transporter nach Charkiw, immerhin 1000 Kilometer entfernt, um dort Hilfsgüter hinzubringen.
Wie wird die deutsche Politik und die deutsche Unterstützung in der Ukraine gesehen?
Wir wissen, dass Deutschland viel hilft, humanitär und militärisch. Darüber wird in den Medien aber nicht berichtet. Unsere Politiker dürfen darüber auch nicht sprechen. Die Bevölkerung weiß aber, dass Deutschland eine große Hilfe für uns ist.
Was wünscht Ihr Euch von Deutschland?
Deutschland hat viel zu sagen und zu entscheiden. Deutschland spielt eine wichtige Rolle in Europa. Ich weiß, dass es auch viele Probleme in Deutschland gibt und auch hier viele Menschen klagen. Bitte vergesst aber trotzdem die Ukrainer nicht. Auch wenn hier alles teurer wird, könnt ihr Deutschen doch ohne Angst nachts schlafen gehen. Auch wenn in Eurem Land vieles schwieriger wird, könnt ihr doch in Ruhe leben. Wir müssen uns verteidigen, weil wir sonst vernichtet werden. Die ukrainische Armee kämpft auch für Europa. Man darf uns nicht vergessen.
Mit welchen Gedanken gehst Du in die Wintermonate?
Ich habe keine Angst um mich, aber um Menschen, die allein leben. Meine Gedanken drehen sich immer um die Fragen „wem soll ich helfen, um wen muss ich mich kümmern, wer braucht etwas?“
Hat Dich der Krieg verändert?
Der Krieg hat mich sehr mitgenommen und geprägt. Ich dachte, ich bin psychisch stärker. Der Krieg hat mir Lebensfreude genommen, die aber wiederkommen kann.
Ich habe auch eine positive Veränderung an mir erlebt, eine Horizonterweiterung. Durch den Krieg habe ich mich noch mehr für andere Menschen geöffnet.
Wie wichtig und wie hilfreich ist für Dich in diesen Zeiten der Glaube an Gott?
Das ist das Wichtigste. Das gibt mir Kraft. Ich finde keine Antworten auf Fragen, die in meinem Kopf und in meinem Herzen entstehen. Warum werden Kinder umgebracht und Frauen vergewaltigt? Ich versuche keine Antworten zu finden, weil es keine Antworten gibt. Ich bete ständig für Gottes Gerechtigkeit – „Gott sei gerecht mit den Menschen, die uns das antun“. Ich glaube an Gottes Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit. Hass schadet nur uns selber.
Manchmal kommen Menschen zu mir und fragen, ob sie dafür beten sollen, dass Putin stirbt. Ich sage dann immer „wünscht ihm das Himmelreich – und so schnell wie möglich“.
Wie wird Dein Weihnachtsfest aussehen?
Ich hoffe, ich bekomme wieder eine Ausreisegenehmigung und kann mit meiner Gemeinde in Wolfsburg, bei der ich schon seit zehn Jahre als Priester tätig bin, das Weihnachtsfest verbringen und Gottesdienste feiern. Drauf freue ich mich.
Was möchtest Du uns noch sagen?
Ich möchte mich bei allen Wolfsburgern bedanken, die so viel geholfen und sogar Familien aufgenommen haben. Schon mehr als 20 Hilfstransporte sind aus Wolfsburg zu uns gekommen. Ich bedanke mich von Herzen für alles, was wir aus Wolfsburg bekommen haben und bitte Sie um weitere Unterstützung. Sie können damit Tausenden helfen und ich bin durch meine Arbeit für Sie so etwas wie Ihr Werkzeug in der Ukraine. Ihr Vertrauen in mich und meine Arbeit ist ein großes Geschenk und macht mich stolz.
Vor allem: Beten Sie für uns und mit uns.
Das Interview führte Thomas Hoffmann im November 2022